top of page

Walters Weisheiten

Hab euch diesen Post mal probeweise als Audio eingesprochen. Feedback appreciated!


Vor kurzem hatte ich ein Gespräch, dass mich zugleich amüsiert und ein bisschen sauer gemacht hat. Auf dem Nemrut Dağı in der Türkei komme ich mit Walter ins Gespräch, von Reisender zu Reisendem. Walter war mit seiner Freundin unterwegs im Camper, beide in ihren 60ern würde ich schätzen, beide aus Deutschland.


Nemrut liegt im Nichts. Bis zum Horizont liegt der Ort im wunderschönen Bergland, fernab von Mobilfunk und Zivilisation. An solchen Orten fühle ich mich allein im Van meistens zumindest mulmig. Ich achte auf mein Bauchgefühl, das hat mich immerhin wohlbehalten bis hierher gebracht. Wirklich wegfahren will ich aus diesem Gebiet heute Nacht nicht, immerhin ist es ziemlich schön hier, gleichzeitig bin ich aber auch nicht wirklich scharf auf eine Nacht allein im Nirgendwo.



Fuchs wie ich bin, frage ich also bei Walter nach, wo sie die Nacht mit dem Camper stehen und ob es vielleicht in Ordnung wäre, wenn ich irgendwo in der Nähe stehen würde. Seine Freundin wimmelt das schnell ab, denn sie habe eine Hundehaarallergie. Alles klar.


Das ist natürlich kein Ding, ich komme klar. Was aber ein Ding ist, sind Walters Worte, die er mir zum Abschied entgegenwirft: "Und hab doch nicht so viel Angst! Das verdirbt den Spaß beim Reisen." Ich ärgere mich darüber, irgendwie. Aber warum? Vielleicht hat er ja recht, vielleicht habe ich zu viel Angst?


Walter, ich muss dich im Folgenden ein bisschen verallgemeinern und das tut mir leid. Dafür kennen wir uns nicht gut genug und vielleicht wird dir dieser Text nicht gerecht. Naja, oder vielleicht ja doch.


Wenn Walter spricht


Du sagst, ich solle nicht so viel Angst haben.


In deinen zahlreichen Jahrzehnten an Lebenserfahrung ist es nämlich genau das, was du gelernt hat. Die Welt ist eigentlich gar nicht so schlimm, wie sie immer dargestellt wird. Auf all deinen Reisen hast du gelernt, dass Menschen dich mögen. Du wirst eingeladen in fremden Kulturen, trinkst dich mit Familienvätern unter den Tisch und du lernst Menschen kennen, die dir zeigen, wie die Menschheit wirklich sein kann: Herzlich, offen und nett. Und für den Notfall weißt du, dass du dich verteidigen kann, denn man hat es dir beigebracht.


Also sagst du: "Take it easy!"


Walter, ich muss dir jetzt unterstellen, dass du nicht weißt, wie Alleinreisen für mich mit 25 Jahren so läuft. Vermutlich kannst du es gar nicht wissen. Aber kein Problem, ich erzähle es dir. Denn während du sagst, ich solle nicht so viel Angst haben, denke ich daran, wie ich aufgewachsen bin:


Ich denke daran, wie ich schon in der Grundschule vor "fremden Männern" gewarnt wurde, während Geschichten von Entführungen oder Missbrauch von Frauen essentieller Bestandteil meiner Sozialisierung waren. Während du sprichst, denke ich daran, wie ich mir noch vor meinem zehnten Lebensjahr gewünscht habe, ein Mann zu sein, zumindest zeitweise. Als Leserin von National Geographic in den 2000er Jahren wollte ich nichts mehr, als diese abgefahrenen Abenteuer selbst erleben, in ferne Länder reisen und fotografieren. Aber das machen nur Männer, sehe ich und schlussfolgere weit vor meiner ersten Periode: Vielleicht kann ich später Hormone nehmen, um mir einen Bart wachsen zu lassen, die Haare kurz und die Kleidung weit tragen. Dann, dachte ich, aber erst dann kann ich in dieser Welt sicher reisen und akzeptiert werden.


Ich denke an all die kleinen und größeren Übergrifflichkeiten, die ich erlebt habe. Ich denke daran, wie mich fremde Männer bevormundet haben oder wie ich in Alltagssituationen ignoriert wurde, wenn ich in Begleitung einer männlich gelesenen Person war. Ich denke daran, wie geschärft mein Blick für Menschen inzwischen ist, weil ich das können muss: Schnell analysieren, ob jemand vertrauenswürdig ist oder nicht. Existenziell. Ich denke daran, wie ich beim Reisen auf der Straße offen angesprochen und nach Sex gefragt wurde, und ich denke an all die Geschichten, die ich von anderen weiblich gelesenen Reisenden gehört habe. Ich denke an die Wut in mir beim Anblick ihrer Scham. Es schämen sich, offensichtlich, die Falschen.


Ein konstantes Gefühl von Angst gehört zu meinem Alltag, seit ich denken kann. Nicht zu lange draußen bleiben, insbesondere nicht so lang, wie mein jüngerer Bruder, keine zu kurzen Röcke tragen und nicht zu offen lächeln. Könnte ja eine Einladung sein.


Aber, Walter, das kannst du nicht wissen und ich bin froh, dass du es nicht weißt, denn es ist dir erspart geblieben. Auch ich habe gelernt, dass die Welt eigentlich gar nicht so schlimm ist, wie sie immer dargestellt wird, und dass Menschen mich mögen. Ich wurde eingeladen in fremden Kulturen, habe mich unter den Tisch getrunken und Menschen kennengelernt, die mir gezeigt haben, wie die Menschheit wirklich sein kann. Und vor allem habe ich abgefahrene Abenteuer erlebt und bin in ferne Länder gereist, was mein 10-jähriges Ich unendlich stolz machen würde. Aber Walter: Wir leben in verschiedenen Welten, du und ich.


Ich denke an all das und frage mich, ob du es jemals wirklich verstehen kannst. Doch während du sprichst, schweige ich.

 

PS: Walter, mein inzwischen generalisierter Gesprächspartner, ist an dieser Stelle beliebig austauschbar. Dieser Artikel könnte ebenso gut den Titel „Reise-Ralfs Ratschläge“ oder „Franks Philosophien“ tragen. 

Comments


bottom of page