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Herzlichkeit, Handwerk und Horinca

Einen vollen Tag verbringe ich im Auto, um von Poprad in der Slowakei bis nach Rumänien zu fahren, wo ich 18 Uhr nach Ortszeit ankomme. Mit plattem Hintern und Schulterschmerzen rolle ich auf Vasiles Hinterhof in Oncești ein, darf vor seinen Frühlingszwiebeln direkt am Gemüsebeet parken und komme an. Dass ich hier wahrhaftig ankomme, zur Ruhe komme und mich dieser Ort für fast eine Woche beheimaten wird, war nicht geplant und ist damit umso schöner. Ab dem Moment, in dem ich durch das Tor fahre, ist die Welt langsamer und schneller zugleich.


Ein Garten in Maramureș


Ich öffne die Tür und bekomme Besuch. Ein kleiner Junge springt um mich herum und der Hund des Hauses gleich mit. Hinterher kommt Vasile und herzlicher könnte er wohl kaum sein, direkt von Anfang an. Stolz zeigt er mir sein "Museum": eine kleine Scheune mit allerlei alten Handwerksgegenständen. Direkt danach zeigt er mir das Ankleidezimmer mit verschiedenen traditionellen Trachten im Haus, wo seine Frau Mariana schon mit Schnaps wartet, selbstgebrannt natürlich.


Die nächsten Tage verbringe ich viel Zeit in diesem Garten. Einerseits und allem voran arbeite ich, lese viel und spiele Gitarre, andererseits bin ich aber auch viel unter den Menschen hier. Der kleine Junge von meiner Ankunft soll sich bald als treuer Begleiter herausstellen und sobald ich morgens meine Bustür öffne, steht er auf der Matte. Wir schauen uns Kaulquappen an, schlendern durch den Garten rüber zum Spielplatz und manchmal beschäftige ich ihn auch mit meinen Süßigkeiten aus dem Handschuhfach. Vor allem aber erzählen wir uns viel und verstehen einander nicht. Die Schnittmengen von Deutsch und Rumänisch sind gering, stelle ich fest. Eines lerne ich aber von ihm, ziemlich schnell, nämlich: "De ce?" - "Warum?"


Den Rest der Zeit bin ich unterwegs. Nahezu jeden Tag nimmt mich Vasile mit und zeigt mir das Leben in Maramureș. Am ersten Tag nach meiner Ankunft zeigt er mir eine traditionelle Wäscherei für Teppiche, die nur mit Wasserkraft funktioniert, und daran angeschlossen eine Distille. "Horinca", so heißt der Schnaps und kommt vom Wort "Horin", also "Singen". "First you drink, then you sing", sagt Vasile. Leuchtet mir ein. Außerdem erklärt er mir, wie das Heu in der Gegend noch immer per Hand geernet und geschichtet wird, ohne Maschine. Eine ältere Dame, die ihre Wolle in Handarbeit zu Garn spinnt, Männer, die Schindeln per Hand und jedes Holzstück einzeln zuschneiden, alte Häuser von innen, deren Räume teilweise kaum größer sind als mein Fred - ich sehe, staune und lerne. "It's possible to take picture", sagt Vasile immer wieder. Noch viel mehr, als das Handwerk selbst, beeindruckt mich aber der damit verbundene Stolz.



Ich probiere mich durch die rumänische Küche, esse "Ciorba", "Mici" und "Gogoși". Außerdem zeigt mir Vasile einen grellgelben Baumpilz am Fluss, der selten, teuer und sehr lecker sein soll. Nach etwas Recherche wage ich den Eigenversuch.


Spätestens seit Vasile weiß, dass ich beruflich schreibe, bin ich offiziell "Maria the Writer" und scheine seine Aufmerksamkeit noch viel mehr zu verdienen, werde auch überall als Autorin (natürlich ein bisschen übertrieben) vorgestellt und bekomme zusätzlich zu all den Kostproben jeden Morgen einen Kaffee zum Bus geliefert. Unglaublich, diese zuvorkommende und herzliche Art. Zum Abschied schreibe ich Vasile ein Haiku über Maramureș.Diese japanische Gedichtform mit strengen Silbenvorgaben mag er besonders gern.


Rodna-Gebirge


Das Rodna-Gebirge stand seit dem Beginn meiner Reiseplanung ziemlich weit oben auf dem Zettel für Rumänien. Ganz allein wandern wollte ich aber nicht, also habe ich kurzerhand rundumliegende Workaway-Profile durchgeschaut und mich mit Ray zusammengetan:


"Obwohl ich von der Tatra noch ziemlich verwöhnt bin, werden wir mit tollen Ausblicken und sanften Tälern, blauen Bergketten und weichen Farbspielen belohnt. Wir unterhalten uns viel über Eigentum und Grenzen, Konsum, Zugehörigkeit und Identität, sind uns aber in den meisten Punkten einig. Auf der Rückfahrt hören wir uns wild durch die 80er und Heavy Metal - eine Fahrt, die ihresgleichen sucht." - Tagebuch, 3.06.23

Und diese Freude teilen wir, denn unsere kleine Autoparty erheitert auch die vielen Menschen, die tagsüber immer wieder an den Straßenrändern sitzen und das Geschehen beobachten. "Spicegirls", nennt Vasile Gruppen von vier oder mehr Frauen, die oft mit Garn und Spindel vor den für Maramureș typischen Holztoren der Häuser das Dorfgeschehen austauschen.



Pfingsten kommt zweimal im Jahr


Mein letzter voller Tag bricht an, es ist Sonntag und nicht irgendeiner, sondern Pentecost: Pfingsten. Eine Woche später als in Deutschland habe ich das Glück, die Feiertage hier ganz traditionell zu erleben. Der Trachtenfundus von Mariana wird nun auch für uns zum Ankleidezimmer: alle weiblichen Gäste, noch zwei weitere außer mir, lassen sich traditionell einkleiden. Ehe ich mich versehe, trage ich Rock, Bluse, Kopftuch und Schuhe mit Absatz. So "weiblich" habe ich mich schon lang nicht mehr gefühlt. Gleichzeitig füge ich mich nun aber optisch gut ein auf dem Weg zur Messe in Oncești und später in Bârsana. Eine Frau fragt sogar, ob sie ein Foto mit mir machen darf und hat sich dafür wohl die eine Person hier im Dorf ausgesucht, die am allerwenigsten rumänisch ist. Ich fühle mich geschmeichelt.


Obwohl ich Religionen als Atheistin zumindest spirituell nie viel abgewinnen konnte, beeindrucken mich derartige Veranstaltungen oft sehr. Ich lausche dem tiefen, monotonen Gesang in Abwechslung mit einem Nonnenchor und beobachte die innige Versunkenheit der Anwesenden, während ich auch für mich hier zur Ruhe kommen kann. Ruhe vor dem Sturm: Tanz auf Dorffesten.



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