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Herdenschutzmama

Es ist ein regnerischer Sonntag im Mai, an dem wir einen kleinen Spaziergang mit Vedi unternehmen. Mit großem Abstand sind wir bereits vor der Schafherde umgedreht, die nun hinter uns liegt, als wir ein Bellen hören: Das Bellen der Hirtenhunde, vor denen wir in erster Linie abgedreht sind. Es liegen einige hundert Meter zwischen uns und der Herde, von der wir uns immer weiter weg bewegen, aber die Hirtenhunde, zwei übergroße Kangals, kommen aggressiv und verdammt flott auf uns zu.


Seit ich mit Vedi unterwegs bin, ist das mein persönliches Horrorszenario. Ich weiß, dass mit Hirtenhunden nicht zu spaßen ist, und meide deshalb die Herden immer weitläufig, so auch an diesem Tag. Als ich die Stachelhalsbänder und sabbernd bellenden Schnauzen mitsamt einer Reihe weißglänzender Reißzähne sehe, nehme ich Vedi schon mal auf den Arm. Das klingt falsch, aber es gibt kein Szenario unter diesem Himmel, in dem ich meinen Hund vor meinen Augen zerreißen lasse. Und das wäre vermutlich passiert.


Energisch laufe ich mit Vedi einige Schritte weiter. Mama hat sich inzwischen mit einem großen Stein bewaffnet (eine Taktik, die oft funktioniert) und ist stehen geblieben. Wir sind nun ein paar Meter voneinander entfernt, als ich sehe, wie einer der Hunde zubeißt und Mama hinfällt. Der Stein in ihrer Hand hat als Drohgebärde nicht ausgereicht und vor lauter Angst habe sie nicht werfen können, sagt sie mir später.


Schleunigst überbrücke ich die paar Meter zwischen uns, während ich aus meiner tiefsten Stimmlage brülle und Mama gleich mit. Mein Vokabular an Schimpfwörtern kennt keine Grenzen. Schließlich drehen die rindsgroßen Hunde langsam bei.


Ein Gespräch mit den Hirten


Schon beim ersten Inspizieren und Verbinden der Wunde wird mir schlecht. Ich habe zwar in der Theorie sehr genau gelernt, wie erste Hilfe zu leisten ist, aber die Praxis ist doch etwas heftiger. Zwei Reißzähne haben sich ziemlich tief in Mamas Oberschenkel gebohrt, während das gesamte dazwischen und darum liegende Gewebe anschwillt und sich tiefblau einfärbt. Ich hätte nie gedacht, dass ein Hundebiss derartig schlimm aussehen kann, und langsam verstehe ich, wie es immer wieder zu tödlichen Vorfällen mit Kangals kommt.


Im nächsten Café spreche ich Menschen an und erkläre über Google Translate, dass wir einen Notfall haben und von den Hirten wissen wollen, ob die Hunde geimpft sind. Ein Mann kommt mit uns, um zu vermitteln. Also fahren wir zurück zur Herde, wo die Hunde schon wieder aggressiv bellend am Auto hochspringen. Von meinem Impuls, die Hunde einfach zu überfahren, sehe ich ab.


Der Mann ruft die Hirten, aber schon von weitem wird mir einiges klar. Die "Hirten" dieser Herde und der beiden Hunde sind zwei Kinder, kaum älter als 12 Jahre. Das Kind gibt uns eine Telefonnummer und wird von einem der Kangals an der Leine quer über das Feld gezogen, während der Mann mit den Besitzenden der Hunde telefoniert. Einen Nachweis über die Impfung bekommen wir nicht - natürlich. Aber dafür die Telefonnummer.



Ein türkisch-kurdisches Provinzkrankenhaus


Auf dem Weg zum Krankenhaus bin ich in einem Extremzustand aus Sorge und Wut. Ich habe Angst um Mama, die trotz Schmerztabletten kaum sitzen kann, und bin stinksauer auf dieses Land, in dem so ein Mist einfach passieren kann. Die deutsche Kartoffel in mir schreit nach einer Klage, nach Schadensersatz und einem funktionierenden Rechtssystem, aber innerlich habe ich schon eine Ahnung, dass dieser Fall ins Nichts führen wird.


Seit ich mit Vedi in der Türkei bin, laufen die Menschen vor mir davon. Sie wechseln die Straßenseite, schreien oder springen aus dem Weg, wenn sie in Vedi nur die Silhouette eines Hundes erahnen. Völlig übertrieben, dachte ich.


Im Krankenhaus unterstützen uns der Mann aus dem Café sowie ein Bekannter von ihm: Der Koch des Krankenhauses, der ein wenig Englisch spricht. Mama sagt später sehr treffend: "Wir haben viel Hilfe bekommen, aber keine Empathie." Ich kann mir schon denken, was sich die Leute bei unserem Anblick denken: Zwei deutsche Touristinnen, vermutlich selbst schuld. Sowas passiert hier eben.


Das öffentliche Krankenhaus im östlichsten Zipfel der Türkei, schon an der Grenze zu Armenien, liegt tief im kurdischen Gebiet des Landes. Diese südöstlichen Gebiete sind strukturell oft stark benachteiligt, weshalb das Krankenhaus in einem wirklich fragwürdigen Zustand ist.


Die Arbeitsabläufe sind unstrukturiert, die Behandlungsräume schmutzig und in den Zimmern wird geraucht. Die Wunde wird erst auf meine wiederholte Nachfrage gereinigt, der Impfablauf ist unklar und die Kommunikation ist schlecht, was definitiv nicht nur an der Sprachbarriere liegt. Die Hygiene ist mangelhaft, die Atmosphäre bedrückend und Mamas Kreislauf versagt für einen Moment. Ein wahrgewordener Horror, dieser Ort.


Während Mama von A nach B geschickt wird, gehe ich vier oder fünf Mal zur Kasse, um jeweils lächerlich kleine Beträge einzeln zu zahlen. Insgesamt kostet uns die Erstversorgung mit diversen Impfungen, Schmerzmitteln, Medizin und Verband umgerechnet knapp 40 Euro. In der Zwischenzeit drehe ich mich wie ein Brummkreisel am Telefon zwischen einem Freund, der Türkisch in Englisch übersetzt, und einem befreundeten Arzt, mit dem ich das Impfschema durchspreche. Außerdem versuche ich, den Fall bei der Polizei im Krankenhaus zu melden. Eine Rechtsgrundlage für eine Anklage gibt es. Auf die Nachfrage, ob sie es für wahrscheinlich halten, dass dieser Fall jemals bearbeitet wird, antworten mir die Polizisten des Krankenhauses: "Vielleicht. In ein oder zwei Jahren."


Aber so etwas passiert hier eben.


Ein Plan, der platzt


Nur nochmal kurz mit Vedi rausgehen, mehr war ursprünglich gar nicht geplant. Danach wollten wir endlich im Hotel einchecken und uns darauf vorbereiten, am nächsten Tag mit der Wanderung auf den Mt. Ararat oder Ağrı Dağı zu beginnen. Bereits vor Monaten haben wir eine geführte, 7-tägige Wanderung auf den über 5.000 Meter hohen Vulkan im Osten der Türkei gebucht, Equipment besorgt und uns mental darauf vorbereitet, einige Tage auf diesen Höhen zu überstehen.


Der Biss hat uns weniger als 24 Stunden vorher einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht. Der einzige Gedanke, der mir den Frust nimmt: Wer weiß, wofür es gut war.

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